Was ist Selbstverteidigung im Völkerrecht
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Selbstverteidigung im völkerrechtlichen Kontext
Kurzdefinition
Die Selbstverteidigung im völkerrechtlichen Kontext bezeichnet das in Artikel 51 der UN-Charta verankerte naturgegebene Recht eines Staates, sich gegen einen bewaffneten Angriff zu verteidigen, wobei dieses Recht sowohl individuell als auch kollektiv ausgeübt werden kann und eine der wenigen legitimen Ausnahmen vom allgemeinen Gewaltverbot des Völkerrechts darstellt12. Die Ausübung dieses Rechts ist an strenge Voraussetzungen gebunden, insbesondere das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs sowie die Einhaltung der Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, und besteht nur so lange, bis der UN-Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens erforderlichen Maßnahmen getroffen hat134.
Rechtliche Grundlagen
Artikel 51 der UN-Charta
Die zentrale rechtliche Grundlage für das Selbstverteidigungsrecht im Völkerrecht bildet Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen12. Der Wortlaut dieses Artikels besagt:
„Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat."15
Dieses Recht stellt eine der wenigen legitimen Ausnahmen vom allgemeinen Gewaltverbot dar, das in Artikel 2 Nr. 4 der UN-Charta festgeschrieben ist46. Die Selbstverteidigung ist somit ein fundamentales Recht, das jedem Staat zusteht, jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist127.
Historische Entwicklung
Die Konzeption des Selbstverteidigungsrechts im Völkerrecht hat eine lange historische Entwicklung durchlaufen, wobei besonders der Caroline-Fall von 1837 prägend war89. In diesem Fall kam es zu einem diplomatischen Notenwechsel zwischen den USA und Großbritannien, der zur Formulierung der sogenannten Caroline-Kriterien oder Webster-Formel führte810. Diese Kriterien definieren bis heute maßgeblich die Voraussetzungen für eine legitime Selbstverteidigung im Völkerrecht811.
Die Caroline-Kriterien besagen, dass eine Selbstverteidigungsmaßnahme nur dann gerechtfertigt ist, wenn eine "unmittelbare, überragende Notwendigkeit zur Selbstverteidigung besteht, die keine Wahl der Mittel und keine Zeit zu weiterer Überlegung lässt" und die ergriffenen Maßnahmen "nicht abwegig oder exzessiv" sein dürfen812.
Formen der Selbstverteidigung
Individuelle Selbstverteidigung
Die individuelle Selbstverteidigung bezieht sich auf das Recht eines einzelnen Staates, sich gegen einen bewaffneten Angriff zu verteidigen, ohne vorher die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats einzuholen132. Dieses Recht ist unmittelbar und kann sofort ausgeübt werden, sobald ein bewaffneter Angriff vorliegt24.
Kollektive Selbstverteidigung
Die kollektive Selbstverteidigung ermöglicht es Staaten, einem angegriffenen Staat militärisch beizustehen15. Dieses Prinzip bildet die rechtliche Grundlage für Verteidigungsbündnisse wie die NATO (Nordatlantikvertrag), den ehemaligen Warschauer Pakt oder den EU-Vertrag15. Die kollektive Selbstverteidigung kann sowohl auf Grundlage bestehender Verteidigungsbündnisse als auch spontan nach Beginn eines Angriffs erfolgen13.
Voraussetzungen der Selbstverteidigung
Bewaffneter Angriff
Die zentrale Voraussetzung für die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts ist das Vorliegen eines "bewaffneten Angriffs"24. Nicht jeder Zwischenfall qualifiziert sich als bewaffneter Angriff; niedrigschwellige "Grenzscharmützel" fallen laut dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag nicht darunter24. Ein bewaffneter Angriff muss eine massive militärische Gewaltanwendung darstellen, deren besondere Qualität anhand des Ausmaßes der Gewalt und ihrer Wirkungen ("scale and effects") gemessen wird46.
Traditionell wurde angenommen, dass ein bewaffneter Angriff von einem Staat ausgehen muss, doch seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 können auch Gewaltakte von nichtstaatlichen Akteuren wie Terrororganisationen als bewaffnete Angriffe gelten, wenn sie das Ausmaß einer staatlichen Militäraktion erreichen2714.
Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit
Die Selbstverteidigungsmaßnahmen müssen den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entsprechen3615. Die Erforderlichkeit bedeutet, dass die Maßnahme zur Angriffsabwehr geeignet sein muss und gleichzeitig das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellt1615. Die Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Reaktion im angemessenen Verhältnis zum Angriff steht61517.
Der Internationale Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen betont, dass das Selbstverteidigungsrecht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt wird36. Die im Selbstverteidigungsrecht beinhaltete Kontinuität eines Bruchs des internationalen Friedens ist nur insoweit gestattet, wie die Verteidigung notwendig und angemessen ist, um den Angriff abzuwehren36.
Zeitliche Grenzen
Das Selbstverteidigungsrecht besteht nur so lange, wie die Angriffshandlungen des Aggressors andauern und die Gefahr ihrer Wiederaufnahme besteht16. Es erlischt, sobald die Angriffshandlungen und die Gefahr ihrer Wiederaufnahme endgültig beendet sind und somit der gegenwärtige Charakter des bewaffneten Angriffs nicht mehr gegeben ist16. Zudem endet das Selbstverteidigungsrecht, sobald "der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat"12.
Umstrittene Konzepte der Selbstverteidigung
Präventive und präemptive Selbstverteidigung
Ein besonders umstrittenes Konzept im Völkerrecht ist die präventive oder präemptive Selbstverteidigung, die eine militärische Aktion gegen eine potenzielle Bedrohung vor einem tatsächlichen Angriff rechtfertigen soll1819. Die Bush-Doktrin, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 entwickelt wurde, vertrat die Auffassung, dass die USA das Recht hätten, gegen potenzielle Bedrohungen präventiv vorzugehen, selbst wenn kein unmittelbarer Angriff bevorsteht1119.
Die meisten Völkerrechtler lehnen jedoch die Zulässigkeit präventiver Selbstverteidigungsmaßnahmen ab1810. Nach der Auffassung von Campagnola lässt das Völkerrecht weder präventive noch präemptive Selbstverteidigungsmaßnahmen zu, da das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta und das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta nur im Falle eines bereits erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriffs eine Ausnahme vom Gewaltverbot zulassen1811.
Antizipatorische Selbstverteidigung
Die antizipatorische Selbstverteidigung wird unter bestimmten Umständen als zulässig betrachtet, wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht und nicht anders als durch Gewalt abwendbar ist2021. Diese Konzeption stützt sich auf die Caroline-Kriterien, die eine Selbstverteidigungsmaßnahme rechtfertigen, wenn eine unmittelbare, überwältigende Notwendigkeit besteht, die keine Wahl der Mittel und keine Zeit zur Überlegung lässt821.
Die Schwierigkeit bei der Anwendung dieses Konzepts liegt in der Bestimmung, wann genau ein Angriff als "unmittelbar bevorstehend" gilt und anhand welcher Kriterien dies beurteilt werden soll2021. Besonders im Kontext moderner Bedrohungen wie Cyberangriffen oder dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen ist diese Beurteilung komplex2011.
Die "Unwilling or Unable"-Doktrin
Die "Unwilling or Unable"-Doktrin ist ein neueres Konzept im Völkerrecht, das besagt, dass ein Staat gegen nichtstaatliche Akteure in einem anderen Staat vorgehen darf, wenn dieser andere Staat entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, gegen diese Akteure vorzugehen1422. Diese Doktrin wurde insbesondere im Kontext der Bekämpfung terroristischer Organisationen entwickelt1422.
Die Doktrin basiert auf der Prämisse, dass Staaten die völkerrechtliche Pflicht haben, terroristische Aktivitäten in ihrem Territorium zu bekämpfen1422. Wenn ein Staat dieser Pflicht nicht nachkommt, sei es aus mangelndem Willen oder mangelnder Fähigkeit, könnte dies nach dieser Doktrin ein Selbstverteidigungsrecht anderer betroffener Staaten auslösen1422.
Die Rechtmäßigkeit und genaue Anwendung dieser Doktrin sind jedoch umstritten, da sie potenziell das Souveränitätsprinzip und das allgemeine Gewaltverbot untergraben könnte227.
Praktische Anwendungsfälle
Selbstverteidigung gegen staatliche Akteure
Der klassische Fall der Selbstverteidigung im Völkerrecht betrifft die Abwehr eines bewaffneten Angriffs durch einen anderen Staat32. Ein Beispiel hierfür ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der gegen das Gewaltverbot aus Artikel 2(4) der UN-Charta verstößt und die territoriale Unversehrtheit sowie die politische Unabhängigkeit der Ukraine verletzt37. Die Ukraine hat in diesem Fall das Recht auf Selbstverteidigung, das eine vollumfängliche Verteidigung ihrer territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit umfasst35.
Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure
Die Frage, ob und unter welchen Umständen Selbstverteidigungshandlungen gegen nichtstaatliche Akteure zulässig sind, wurde insbesondere nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 intensiv diskutiert714. Der UN-Sicherheitsrat hat in seinen Resolutionen 1368 und 1373 das Selbstverteidigungsrecht im Kontext dieser Anschläge anerkannt, was als Anerkennung der Möglichkeit interpretiert wurde, dass auch nichtstaatliche Akteure einen bewaffneten Angriff im Sinne des Artikels 51 der UN-Charta verüben können714.
Die internationale Praxis hat sich seither dahingehend entwickelt, dass ein bewaffneter Angriff auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, wenn er das Ausmaß einer staatlichen Militäraktion erreicht714. Allerdings bleibt die Frage, gegen wen sich die Selbstverteidigungsmaßnahmen richten können, komplex, da nichtstaatliche Akteure keine Völkerrechtssubjekte sind414.
Fazit
Das Selbstverteidigungsrecht im Völkerrecht stellt eine wichtige Ausnahme vom allgemeinen Gewaltverbot dar und ermöglicht es Staaten, sich gegen bewaffnete Angriffe zu verteidigen12. Die Ausübung dieses Rechts ist jedoch an strenge Voraussetzungen gebunden, insbesondere das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs sowie die Einhaltung der Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit346.
Die Entwicklung des Völkerrechts in Bezug auf das Selbstverteidigungsrecht ist ein dynamischer Prozess, der sich insbesondere im Kontext neuer Bedrohungen wie dem internationalen Terrorismus oder Cyberangriffen weiterentwickelt71420. Trotz dieser Entwicklungen bleibt das grundlegende Prinzip bestehen, dass das Selbstverteidigungsrecht eine Ausnahme vom Gewaltverbot darstellt und restriktiv ausgelegt werden muss, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren124.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Recht_zur_Selbstverteidigung
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